Wie es um die Diagnosesicherheit in Deutschland steht, ist ziemlich unbekannt – Daten werden schlichtweg nicht erhoben. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit wirbt nun genau dafür und führt finanzielle Argumente an, denn bessere Patientensicherheit sei nicht nur ein menschliches Gebot, sondern auch eine wirtschaftliche Notwendigkeit.
Ein Beitrag von Gunnar Göpel
Am heutigen 17. September wird der Welttag der Patientensicherheit begangen, einer der globalen jährlichen Gesundheitstage der Weltgesundheitsorganisation, der seit 2019 stattfindet, in diesem Jahr unter dem Motto „Diagnosesicherheit“. Einer Preview zu einer OECD-Studie zufolge werden rund 15 Prozent der Kinder in Großbritannien in Bezug auf Asthma überdiagnostiziert und 40 Prozent unterdiagnostiziert. In den USA sollen die Kosten für falsch-positive Mammographien und Überdiagnosen bei Brustkrebs jährlich vier Milliarden US-Dollar übersteigen; in den Niederlanden erhielten bis zu 85 Prozent der Krankenhauspatient:innen unnötige, wiederholte Labortests, obwohl frühere Ergebnisse normal waren.
Zu Deutschland gibt es kaum verfügbare Daten. Bekannt ist gerade noch, dass jährlich hierzulande rund zwei Millionen Krankenhauspatient:innen von unerwünschten Ereignissen betroffen sein sollen und bis zu 20.000 sogar infolge der Verabreichung falscher Medikamente, einer übersehenen oder falschen Diagnose oder vermeidbarer Infektionen während einer Behandlung sterben. Diese Datenarmut frustriert Ruth Hecker, die Vorsitzende des Aktionsbündnisses Patientensicherheit (APS), sichtlich. „Die Daten gibt es nicht, weil wir diese Inhalte nicht messen, und wir messen sie nicht, weil wir sie nicht wissen wollen, und wir wollen sie nicht wissen, weil wir so weiter dem Irrglauben folgen können, dass alles in Deutschland doch so gut ist“, kritisiert die Fachärztin für Anästhesiologie und Chief Patient Safety Officer an der Universitätsmedizin Essen.
Eine ökonomische Notwendigkeit?
Eine weitere APS-Erkenntnis: Fehlt das Interesse an Debatten über den Patientennutzen, dann muss eben über das liebe Thema Ökonomie gesprochen werden – denn Geld leitet längst im Gesundheitswesen Entscheidungen. „Eine Investition in die Vermeidung von Diagnosefehlern mag kurzfristig kostenintensiv erscheinen, bringt aber langfristig erhebliche Einsparungen“, sagt die APS-Vorsitzende. Christian Deindl, stellvertretender APS-Vorsitzender, ergänzt: „Seit Jahren wird beklagt, dass unser Gesundheitssystem nicht mehr finanzierbar sei und die Kosten regelrecht explodierten. Und trotzdem leisten wir uns gleichzeitig kostenintensive Fehler in Höhe von bis zu 15 Prozent der Gesamtausgaben.“ Die beliefen sich zuletzt auf rund 500 Milliarden Euro.
Deindl verweist darauf, dass Kodierer im DRG-Vergütungskontext zu einem neuen Beruf ohne jeglichen Patientenbezug und Verantwortung für die Patientensicherheit geworden sei und die Gefahr des Upgradings von Diagnosen aus Erlösgründen bestehe. „Vielmehr muss das Augenmerk auf alle Ressourcen im Gesundheitswesen und auf der Einhaltung von bewährten Standards und Leitlinien liegen“, fordert der frühere niedergelassener Kinderchirurg. Erfreulich sei, dass seltenen Krankheiten inzwischen „die ihnen gebührende diagnostische und therapeutische Aufmerksamkeit geschenkt wird“, also auch die notwendigen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten mit finanziellen Mitteln unterlegt sind. Umso befremdlicher mute es hingegen an, dass beim Diabetes mellitus zwar fast neun Millionen Menschen diagnostiziert seien, aber bei erwartbar weiteren circa zwei Millionen Menschen „nicht rechtzeitig diagnostiziert und behandelt wird“ – die Folge sind nicht selten vermeidbare Amputationen oder Erblindungen.
Um dem Globalen Aktionsplan zur Patientensicherheit 2021-2030 gerecht zu werden, muss Deutschland laut Aktionsbündnis in die Verbesserung der diagnostischen Verfahren investieren. Bedeutet: systemische Mängel angehen, die Gesundheitsversorgung besser vernetzen und den Einsatz neuer Technologien wie künstlicher Intelligenz fördern, um Diagnosen schneller und genauer zu stellen. Der Aktionsplan fordert auch die Politik dazu auf, Patientensicherheit messbar zu machen. In Deutschland braucht es laut APS dazu übberhaupt verfügbare Daten, etwa aus der Versorgungsforschung. „Bei den Krankenkassen und den Kassenärztlichen Vereinigungen liegen ganz viele Daten, die man nutzen könnte, wenn man dürfte“, so Hecker.
Auch erneuerte das APS gestern seine Forderungen nach einem Never-Event-Register. Dieses, so Hecker im Gespräch mit Tagesspiegel Background, könnte beim APS angesiedelt werden. Als neutrale Organisation, bei der die meisten Stakeholder ohnehin Mitglied seien, könnte ein Gremium im APS gebildet werden, was einen neutralen Blick darauf habe und sich dem Thema verpflichte. „Aber die Ehrlichkeit ist von Stakeholdern aus unterschiedlichen Gründen nicht gewünscht und das ist ja unser Problem – fehlender Mut zur Ehrlichkeit und Transparenz“, so Hecker. Sie spricht sich dafür aus, die Hauptprobleme der Versorgung zu suchen und gemeinsam anzupacken. „Eines ist sicherlich die Arzneimitteltherapiesicherheit, eines ist bestimmt die Diagnosesicherheit. Nur wir wissen es nicht und wir haben keinen Mut in Deutschland, uns ehrlich und transparent zu machen.“
eMedikationsplan: Unabhängig von der ePA?
Joachim Maurice Mielert verweist auf eine Zahl des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), der zufolge 500.000 Patient:innen pro Jahr sich durch unerwünschte Wechsel- oder Nebenwirkungen in stationären Krankenhausaufenthalten wiederfänden. Auch deshalb hält der APS-Generalsekretär den elektronischen Medikationsplan für einen essenziellen Baustein der Patientensicherheit. Nur: Er müsste losgelöst von der elektronischen Patientenakte (ePA) gesehen werden und an den E-Rezeptserver angebunden werden. „Es wäre viel einfacher gewesen, das so zu machen, weil er neben der Frage der Verordnung und Einnahmehistorie auch abbilden könnte, was der Patient an freiverkäuflichen Pharmazeutika erworben und konsumiert hat“, so Mielert. „Wenn Sie bei einem Schmerzereignis heute zum Beispiel einem Patienten ein schweres Schmerzmittel geben und der Arzt gar nicht weiß, dass der Patient sich schon zwei Schachteln freiverkäuflicher Schmerztherapeutika einverleibt hat, dann sind Unfälle vorprogrammiert.“
Werde eine Medikationsdokumentation barrierefrei und standortunabhängig mit sich geführt, dann sei die Wahrscheinlichkeit, dass ein kritisches Ereignis glimpflich ausgehen wird, relativ hoch. Der eMedikationsplan müsse „ein eigenständiges Modul sein, denn wenn uns die Kreditkarte geklaut wird, dann haben wir eine Telefonnummer, die wir anrufen können und dort weiß man ganz genau, zu wem die Nummer gehört – interoperabel über alle Kreditinstitute hinweg“. Die Finanzwirtschaft habe dies vor 20 Jahren vorgemacht – beim lebensrettenden Medikationsplan funktioniere dies aber nicht.
Zu viele Untersuchungen in Schwangerschaften
Auch etliche andere Stakeholder positionierten sich gestern zur Patientensicherheit. Der Deutsche Hebammenverband warnte, Deutschland sei vom Ziel „Sichere Diagnose – Richtige Behandlung“ bei der Geburtshilfe sowie bei der Betreuung in Schwangerschaft und Wochenbett weit entfernt. „Auch gesunde Frauen bekommen bereits in der Schwangerschaft – häufig nicht evidenzbasiert – zu viele Untersuchungen angedient“, so Verbandspräsidentin Ulrike Geppert-Orthofer. In den Kliniken führten falsch gesetzte wirtschaftliche Anreize oft zu frühen Eingriffen in den natürlichen Geburtsverlauf. „Wir brauchen in Deutschland eine Geburtshilfe, die sich zuallererst am Bedarf der Frauen und Familien im Sinne einer passgenauen, evidenzbasierten Versorgung ausrichtet.“
Weil Opfer von ärztlichen Behandlungsfehlern ihre Rechte nur schwer durchsetzen könnten, forderte der Verbraucherzentrale Bundesverband gestern gemeinsam mit dem APS die Politik auf, das 2013 in Kraft getretene Patientenrechtegesetz im Sinne der Patient:innen zügig zu überarbeiten. Die Bundesregierung hat für diese Legislaturperiode eine Überarbeitung des Gesetzes angekündigt – bis heute liegen weder ein Eckpunktepapier noch ein Referentenentwurf vor.
„Zeit für das Gespräch mit den Patientinnen und Patienten, für den interprofessionellen, fachlichen Austausch und für die Reflexion des eigenen Handelns tragen entscheidend dazu bei, Fehldiagnosen zu vermeiden“, sagte Klaus Reinhardt, Bundesärztekammer-Präsident. Angesichts zunehmender Arbeitsverdichtung, überbordender Bürokratie und Wettbewerbsdruck fehle in Kliniken und Praxen diese Zeit jedoch häufig. Notwendig sei ein klares Bekenntnis der Politik zur Patientensicherheit, das dann aber auch zu konkreten gesetzlichen Maßnahmen führen müsse
DAK-Gesundheit ernennt Beauftragte für Patientensicherheit
Eine der größten deutschen Krankenkassen plant zudem, das Thema Patientensicherheit stärker zu institutionalisieren: Die DAK-Gesundheit wird heute die Ernennung von Viola Sinirlioglu zur ersten DAK-Beauftragten für Patientensicherheit bekanntgeben. Die 38-jährige Ärztin und Gesundheitswissenschaftlerin soll sich „in ihrer neuen Rolle für die Sicherheit der Versicherten und für eine bessere Kooperation mit Leistungserbringern im Gesundheitswesen stark machen“, heißt es in derTagesspiegel Background vorliegenden Mitteilung der Kasse. Sinirlioglu promovierte zu Fragen der Patientensicherheit und war als studierte Gesundheitsökonomin und -wissenschaftlerin in der Forschung und im Stiftungs- und Beratungswesen dazu tätig. Bei der DAK möchte sie „weitere Projekte zur Förderung der Patientensicherheit, eine der drängendsten Herausforderungen in den Gesundheitssystemen weltweit, entwickeln“.
Wie es seitens der Krankenkasse heißt, wird eines ihrer wichtigsten Projekte das von den Ersatzkassen initiierte Portal „Mehr-Patientensicherheit“ sein, das gemeinsam mit anderen Krankenkassen und der Deutschen Gesellschaft für Patientensicherheit initiiert wurde und auf dessen Webseite Patient:innen anonym und vertraulich über ihre kritischen Erlebnisse im Gesundheitswesen berichten können. Anschließen sollen die Hinweise systematisch ausgewertet und als Basis dienen, um Optimierungsbedarfe zu erkennen und diesen rasch und strukturiert begegnen zu können.